Dienstag, 6. Dezember 2011

Gesund im Advent

Nein, im Ernst: ich bin der festen Überzeugung, dass es sehr gesund ist, sich im Dezember in einer nahe gelegenen Kirche ein Adventskonzert anzuhören, das mit viel Liebe und Engagement fast über das ganze Jahr vorbereitet wurde. Bach, Vivaldi, Telemann, wer kann da widersprechen? Ich stecke vorsorglich Taschentücher ein, weil die Wahrscheinlichkeit, dass mir bei Bach die Tränen kommen, nicht gering ist. Meine Freundin H. raucht vor der Kirche noch ihr Zigarillo zuende, dann öffnen sich die Pforten von St. Barbara und wir müssen uns beeilen. Wir haben uns diesmal einen schönen Sitzplatz verdient, denn wir sind sehr zeitig gekommen. Andere stehen, müssten sie aber nicht, in den Reihen sind noch Plätze frei, aber ihr Kuschelbedürfnis scheint gering zu sein. Der Vorsitzende des Chores spricht noch ein paar einleitende Sätze als Spendenaufruf: "Ich will hier nicht kalauern, aber der Motettentitel >Der Geist hilft unserer Schwachheit auf< könnte heute für uns heißen >Der Schein hilft unserer Schwachheit auf<" Hoffentlich trügt der Schein nicht. -  Bach also fängt an. Diesmal bleibe ich vom Tränenfluss verschont. Erst bei Vivaldi regt sich ein wenig Rührung in mir. Den muss ich doch mal besser kennen lernen.

Vor uns sitzt ein Paar, links von ihnen ein kleiner Junge, ihr kleiner Junge? Sie beachten ihn nicht, der Arme. Eine Mutter, die sich mehr auf ihren Partner konzentriert? Befremdend für ein Kind. Aber das Kind schaut ganz aufmerksam nach vorne, wo die Musik schön spielt, ob Schein oder nicht Schein. Mit H. beginne ich zu rätseln, wer zu dem Kind gehört. Sie meint, es sei mit seiner Oma gekommen, der älteren Dame, die links neben dem Jungen sitzt. Aber die schaut zu neugierig auf ihn zwischendurch, er reagiert gar nicht, zudem hat sie sich erst später dazu gesetzt. Wir wetten: ich, dass das Paar seine - strengen? - Eltern sind. Sie, dass er mit seiner Oma da ist. Zum Abschluss, nach dem langen, wunderbaren Gloria in D-Dur (RV 589) von Vivaldi singen wir gemeinsam "O, Du Fröhliche!" und freuen uns alle. H. hat jetzt die Wettwut gepackt und sie fragt die ältere Dame ganz direkt, ob sie die Oma von dem Jungen ist. Nein, ist sie nicht. Das wundert mich nicht. Aber das Paar ist auch nicht verwandt mit ihm oder verantwortlich für ihn. Der Junge sagt, dass er einfach ganz allein gekommen ist. Weil ihm die Musik gefällt. Wir sind gerührt. Er verabschiedet sich nett, H. bekommt das gar nicht mit - sie ist im Gespräch mit der älteren Frau - während ich mich meinem Erstaunen hingebe und mich fast alt fühle, weil ich beeindruckt bin von einem Elfjährigen, der so von klassischer Musik begeistert ist. Aber Elfjährige, die sich schon sehr für etwas längerfristig und ganz alleine begeistern können, sind vielleicht per se rar, was immer das auch sein mag. Ich darf also staunen. Nur leider bekommt keine von uns den Latte macchiato, um den wir gewettet haben.

1 Kommentar:

  1. Eine schöne Begebenheit. Hört man da ein leises Bedauern darüber, dass sich Jugendliche zu wenig für etwas langfristig begeistern können? Ist das nicht das Privileg der Jugend: Die Welt entdecken? Heute hier, morgen dort. Das ist doch toll. Und es bleibt Zeit genug um das zu finden, für das man sich langfristig begeistern möchte.

    Ist es nicht viel schlimmer, dass wir „Erwachsenen“ den nachfolgenden Generationen vorleben, dass sich ein langfristiges Engagement nicht lohnt, in einer Welt, in der alles nach Rentabilitätskriterien abgewogen wird. So was Unnützes wie Musik, Kunst, Kultur im allgemeinen ist doch nur was für notorische Weltverbesserer und Gutmenschen, oder? Nicht einmal in existenzbedrohenden Angelegenheiten brigt man ein langfristiges Engagement auf die Beine - siehe Durban. Also, woher sollen es die Jugendlichen lernen?

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